Samstag, 19. November 2011

Santa Claus is coming to town


Keine Schneeflocken. Kein Last Christmas. Keine Schokoladenweihnachtsmänner, die seit Monaten aus überquellenden Supermarktregalen grinsen.
In einem Monat Weihnachten? Das kann nicht sein. Das geht nicht. Es ist doch noch Hochsommer…

Ich würde wohl keinem Kalender glauben, der mir das eilig nahende Weihnachtsfest prophezeien wollte, wäre da nicht dieses Etwas, das schon so lange in der Luft liegt.

„Fröhliche Weihnacht überall!“ tönet durch die Lüfte froher Schall…

Es ist groß und es ist schwer, sehr groß und sehr schwer, so groß und so schwer, dass man es alleine nicht tragen kann, dass man es teilen muss, mit jedem, dem man begegnet. Es ist laut, sehr laut, so laut, dass jeder es schon aus weiter Entfernung hören kann, es knistert und raschelt und manchmal knallt und schreit es auch. Es ist schnell, sehr schnell, so schnell, dass es um Ecken und Kanten saust, durch Fenster und Türen, bis es jeden erreicht hat.
Es ist schön, sehr schön, so schön, dass jeder, Junge und Alte, ihre Augen leuchten lassen.
Es ist Vorfreude.

Weihnachtston, Weihnachtsbaum, Weihnachtsduft in jedem Raum…

Weihnachten ist das Fest der Familie, des Beisammenseins, der Harmonie. Und weil die Familien in Sanko sehr groß sind und Tanten, Neffen und Großcousins in ganz Ghana und sogar darüber hinaus verstreut leben, wird es ein Riesenfest, wenn an Weihnachten alle wieder zusammen kommen. Homecoming.
Eine ganze Woche lang finden die verschiedensten Aktivitäten und Projekte statt, die schon seit Monaten von einem in der Hauptstadt tagenden Komitee geplant werden. Es wird an drei Tagen eine kostenlose medizinische Versorgungsstation für alle geben, einen Spendenbasar, um verschiedene Projekte finanzieren zu können, zum Beispiel den Bau einer öffentlichen Toilette. Auch unser Kid’s Corner ist Teil der Planung: Unsere Kinder werden ein Theaterstück aufführen.

Außerdem wird für die Kinder eine große Weihnachtsparty steigen. Und da kommt der alte Bärtige mit dem roten Mantel ins Spiel, dessen tausende kleine Klonbrüder bereits seit September auf ihren großen Auftritt warten dürften. Denn auch wenn es in Afrika niemals schneien wird, auf Santa Claus und seine fliegenden Rentiere warten hier alle Kinder. Wie sollten sie auch nicht, wenn sie in Fernsehen und Zeitschriften sehen, dass dieser generöse Mann doch alle Kinder beschenkt?

Den Kindern werde ich es nicht verraten, aber euch kann ich flüstern, dass ich vor einigen Wochen mit dem lieben Weihnachtsmann gesprochen habe. Und wisst ihr was? Er hat ganz ganz ganz fest versprochen, uns in Sanko besuchen zu kommen. Schließlich haben ihm seine Elfen und Wichtel bestätigt, wie lieb und brav alle Kinder das ganze Jahr über waren. Die kleinen Helferchen haben sogar schon begonnen, den Sack zu füllen. Ob er bis Weihnachten richtig voll sein wird?

Das Tolle daran ist: Der Weihnachtsmann hat mir auch verraten, dass man zum Elfen- oder Wichtelsein keinen Elfen- oder Wichtelpass braucht und schon gar keine Elfen- oder Wichtelprüfung bestehen muss.
Falls also irgendwer unter euch schon immer einmal Elfe oder Wichtel spielen wollte, dann darf er uns gern eine Freude machen:
Wir malen und basteln sehr gern, weshalb wir viele Buntstifte, Wachsmalstifte und Filzstifte, Wassermalfarben aber auch Radiergummis, Anspitzer, Klebestifte, Pinsel, buntes Papier und Ausmalbücher, aus denen wir Seiten für alle kopieren können, brauchen.
So etwas passt auch gut in einen großen Briefumschlag. Und ab damit an:

Melanie Weise
Our Children e.V.
P.O. BOX 160 HH
Hohoe, Volta Region
Ghana

Wir freuen uns auch immer sehr über neue Spiel- und Bastelideen für drinnen und draußen von einfallsreichen Mamis, noch nicht erwachsenen Spielkindern, Clowns, Spaßvögeln und anderen Gute-Laune-Menschen.

Samstag, 12. November 2011

Ein Plädoyer für Kaltduscher


Noch vor einem Jahr hätte ich stolzen Advokaten der Kaltduscherei ob der in diesen Monaten üblicherweise sukzessive und erbarmungslos gen Gefrierpunkt segelnden Temperaturen wahlweise Eier und Tomaten oder in Ermangelung dieser wenigstens wüste Worte der Verständnislosigkeit an den Kopf geworfen. Nicht so heute.
Denn heute spende ich Max Goldt brausenden Applaus, wenn er sagt:

„Hart und eisig muss der Strahl auf ein starkes und stürmisches Herz prallen.
Mit warmem Wasser duscht man viel zu lange, wodurch die Haut runzelig wird. Und in den Runzeln machen es sich Pilze aller Rassen und Klassen gemütlich und nötigen einen, sich mit nach Harnstoff riechenden Breitbandfungiziden einzucremen.“

Meine Dusche kennt keinen Warmwasserhahn. Meine Dusche besteht manchmal aus einer zwei Köpfe über mir angebrachten Brause, manchmal aus einem Eimer Wasser. Kaltem Wasser natürlich. Gute Tage beginnen mit kaltem Wasser.

Wenn ich morgens aufwache, den dünnen Baumwollschlafsack, ohne den ich in der Nacht gefroren hätte, abgestrampelt, das schweißfeuchte Shirt am Körper klebend, dann empfinde ich warmes Wasser als eines der überflüssigsten Dinge dieser Welt.

Stattdessen schnappe ich mir Handtuch und Seife und mache mich auf den Weg zum kalten Flüssiggold.
Vorbei an Opi, meinem schätzungsweise hundertjährigen fast blinden Nachbar, der auf meinen Morgengruß erst reagiert, wenn ich bereits fünfzig Meter weiter über Stock, Stein und Küken gehüpft bin.
Vorbei an der Steinomi, die keinen anderen Gesichtsausdruck als das Lächeln zu kennen scheint, wenn sie es sich auf ihrem Sitzstein bequem gemacht hat und seelenruhig im vor ihr stehenden Topf rührt.
Vorbei an so vielen Dorfbewohnern, die alle, egal wie früh ich auch aufstehe, schon viel länger wach zu sein scheinen als ich.

Und dann stehe ich in einem Holzverschlag, lasse kalte Wassertropfen auf mich rieseln und denke wieder an Max Goldt:

„In neutralem Licht betrachtet, dürfte das Erwärmen von Wasser zur Reinigung des menschlichen Körpers eine der größten Idiotien der Menschheit sein. Ich habe keine Ahnung von Energiewirtschaft, aber ich möchte doch anregen, den hübschen Satz „Ohne die Warmduscherei wären Atomkraftwerke unnötig“ erst einmal auf seine Volumenprozente an Wahrheit hin zu untersuchen, bevor man sich wegen seiner vermeintlichen Lustigkeit auf dem Laminat rollt.“


Aus: „Ein gutes und ein schlechtes Wort für Männer“, Max Goldt

Freitag, 4. November 2011

Zwischen Leben und Sterben


Volksfeststimmung am Wochenende. Für drei Tage verdoppelt sich die Einwohnerzahl Santrokofis. Gäste reisen an. Aus der Hauptstadt Accra, aus dem weit entfernten Kumasi, sogar aus den USA kommen sie geflogen.
Laute Bässe dröhnen aus lauten Lautsprechern. Legen die Bässe eine Pause ein, sind laute Jubelschreie und beinahe teeniehaftes Gekreische zu hören. Sechsjährige Kinder lassen zum Takt der Töne ihre Hüften kreisen, während sich neben ihnen ihre jugendlichen Geschwister von all der Schulbescheidenheit in ausgelassenen Bewegungen lostanzen und losspringen. Auf der einzigen Straße des Dorfes tummeln sich herausgeputzte Menschen, ganze Menschentrauben lachen und schwanken mit einer Flasche oder einem Glas oder beidem in der Hand vor den Drinking Spots.
Volksfeststimmung am Wochenende.

Das Volksfest ist eine Beerdigungsfeier.
Funerals – Beerdigungen – sind große Ereignisse, die ausgiebiger gefeiert werden als Taufen und Hochzeiten. In wohlhabenderen Familien ist es nicht unüblich, einen toten Körper ganze Monate unbeerdigt aufzubewahren, bis das große Begräbnis geplant ist und tatsächlich alle Angehörigen des Verstorbenen zu diesem Großevent anreisen können.

Am Wochenende wurden in Santrokofi drei Männer gleichzeitig beerdigt, die in diesem Dorf aufgewachsen waren.
Nachdem am Freitag mehr als 50 Frauen das Essen für die vielen Gäste vorbereiteten, konnte am Samstag die Beerdigung – bestehend aus einer aufwändig organisierten Predigt mit viel Musik und langen Gebeten und der anschließenden Grablegung – stattfinden.

Wenige Stunden zuvor hatte jeder die Gelegenheit, sich ein letztes Mal von den Verstorbenen zu verabschieden. In zwei Räumen lagen die toten Männer aufgebahrt in offenen Särgen. Gekleidet in feine Anzüge. Umspielt von Ketten und bunten Steinen. Viele Bilder zeigten das Leben der nun toten Menschen. Der Raum war farbenfroh geschmückt mit blinkenden Lichterketten und Kränzen aus grellen Plastikbändern.
Ich schäme mich dafür, dass mein erster Eindruck dieser Totendarstellung ein lächerlicher war. Als würde es dem Tod nicht gerecht werden. Als würde man den Tod nicht ernst nehmen.

Das scheint der Knackpunkt zu sein – die Ernsthaftigkeit des Todes.
Ich nehme den Tod sehr ernst, weil er dort, wo ich herkomme, eine Katastrophe ist. Weil er dort abstrahiert wird, inszeniert als Worst Case, der hinaus gezögert werden muss, verhindert, wenn möglich.
In Ghana – zumindest in Santrokofi – ist Tod kein abstraktes Wort. Tod ist etwas Natürliches. So natürlich wie die Geburt, wie das Laufenlernen und das Wachsen. Der Tod ist so natürlich, weil er gegenwärtig ist.
Dem Tod kann nicht derart vorgebeugt werden, wie es in Deutschland möglich ist: Über Ghanas mit Schlaglöchern übersäte Straßen holpern Autos, die in Deutschland keine TÜV-Plaketten mehr bekommen konnten.
Der Tod kann nicht derart verschoben werden, wie es in Deutschland möglich ist: Aus deutschen Augen ist die Krankenversorgung ein Desaster. Manchmal ist tagelang kein Arzt aufzutreiben, für viele Familien sind Medikamente zu teuer, die weniger als einen Euro kosten.

Weil der Tod für viele so natürlich ist, glaube ich, dass er für viele ernster ist als für Menschen wie mich, die ihn zwar irgendwie im Bewusstsein abgespeichert haben, jedoch erschrecken, wenn er real wird, die ahnungslos sind, wie sie damit umgehen sollen und ihn deshalb weit von sich weisen. Diese – eher deutsche – Ernsthaftigkeit des Todes ist nur eine aufgesetzte Ernsthaftigkeit, da sie den Tod nicht ernsthaft als Lebensgrenze akzeptiert. Viel eher meint sie eine Tabuisierung des Todes. Lasset uns nicht davon sprechen, dann wird es auch nicht geschehen…

Vielleicht ist es gut, dass der Tod in Deutschland eine so abstrakte Rolle einnimmt, weil es bedeutet, dass er nicht an der Tagesordnung steht und Menschen überleben, weil es Gründe gibt, wegen derer man im 21. Jahrhundert – in Deutschland! – nicht mehr stirbt.
Vielleicht ist es nicht gut, dass der Tod in Deutschland eine so abstrakte Rolle einnimmt, weil er dadurch beeinflussbar erscheint und uns vorgaukelt, wir hätten die Macht, ihn zu manipulieren. Und werden dadurch blind. Und stolpern über die Grenzen unserer Fähigkeiten.

An dem Morgen der großen Beerdigungsfeier starb eine Frau, die schon seit Wochen krank gewesen war, sich jedoch das Krankenhaus nicht leisten konnte. Ihr toter Körper wurde direkt am nächsten Morgen begraben, da die Familie kein Geld für eine aufwändige Beerdigungsfeier aufbringen konnte. Die Predigt war viel kürzer als die lang geplante Programmabfolge vom Vortag. Und womöglich deshalb so bewegend.
Die Schwestern tanzten um den Sarg. Ausgebreitete Arme, Tücher in den Händen. Aus geschlossenen Augen liefen Tränen. Inbrünstige Melodien aus kraftvollen Kehlen. Hier und da ein in Erinnerungen vergrabenes Lächeln. Der Schmerz über den Verlust, heraus getanzt in unzähligen rhythmischen Schritten. Bis nichts bleibt als die Erinnerung an das Schöne und die Dankbarkeit für das Leben.