Donnerstag, 26. Juli 2012

Von hier aus


Wären nie Menschen ins All geflogen, wüssten wir heute nicht, wie die Erde von oben aussieht. Wäre ich nie nach Ghana geflogen, wüsste ich nicht, weshalb mir das Leben in Deutschland manchmal so schwer fiel. Abstand bringt Überblick. Neue Blickwinkel. Ich habe hier in Ghana so viel Abstand zu meinem alten Leben, dem Leben in Deutschland, dass ich es, ohne gerade davon beeinflusst zu werden, besser überblicken kann. Ich erkenne Dinge, die mir durch meinen starren, eingeengten Blick verborgen blieben, schätze manches anders, neu ein. Denn wenn alle um einen herum anders denken und handeln, dann rückt die eigene Wahrnehmung und Meinung aus dem Mittelpunkt und andere Ansichten nehmen diesen Platz ein…

Wie ein Astronaut auf die Erde, so schaue ich von Ghana aus auf Deutschland – was sehe ich? Stille. Alleinsein. Zwang zur Anonymität. Pessimismus. Krise. Wirtschaftskrise. Finanzkrise. Gesellschafskrise. Pessimismus. Leistungsdruck. Immer mehr, immer schneller, immer besser. Zu viele Möglichkeiten, die erschlagen. Zu viele Informationen, die ertränken. Und immer wieder Pessimismus.

Mir scheint, es sei der Optimismus, der dem momentanen westlichen Zeitgeist fehlt.
Was ist es wohl, das Menschen dazu zwingt, ihre Persönlichkeit aufzugeben, ihren Charakter, ihre Ideale zurechtzustutzen? Lebenserfahrung als messbaren Wert anzusehen? Die Menschen zu vernachlässigen, die ihre sozialen Stützen ausmachen, sodass Beziehungen zerbrechen, Schwestern Brüdern fremd werden und Mütter nicht wissen, was sich ihre Töchter durch die Adern spritzen? Was bringt Menschen dazu, ihr Leben von Erfolgsdruck diktieren zu lassen?
Es ist wohl die Angst. Die Angst vor dem, was käme, täten sie es nicht. Die Angst vor dem, was uns wort- und bildreich in der Schule, auf der Straße und natürlich – wie könnte es hierbei fehlen? – im Fernsehen eingetrichtert wird: Wenn du nicht deine egoistischen Ellbogen ausfährst, wenn du nicht der Superlativ bist, wenn du dich nicht für dein gesellschaftliches Ansehen kaputt machst, dann wird nichts aus dir!

Ich will nicht Faulheit in Schutz nehmen. Motivation, Ehrgeiz und Verbesserungsstreben können durchaus erfüllend sein. Ich will nur anraten, das menschenfeindliche Wort „Humankapital“, bei dessen Aussprache sich mir die Bauchnabelhaare aufstellen, schleunigst aus dem Sprachgebrauch zu verbannen, sowie jegliches Gedankengut, das den Wert eines Menschen in Zahlen zu messen vermag.

Eine Generation, für die der Lebenslauf ein wichtigerer Entscheidungsträger als das eigene Gewissen zu sein scheint. Aus Angst. Angst, die Pessimismus nährt. Komponenten eines Zeitgeistes, dem man sich anschließen kann, wenn man mag oder nicht darüber nachdenken will, dem man allerdings auch Optimismus entgegen setzen kann. Eine gehörige Portion Optimismus würde dieser Generation nicht schaden!
Zugegeben, zwischen Optimismus und Naivität schwankt nur ein schmaler Grat. Aber weißt du, was von meinem ghanaischen Astronautenanzug aus naiv wirkt? Luxusprobleme wie diese, über die in Deutschland geheult wird. Wie die Streberkinder, die bei einer 1- in Tränen ausbrechen…

Da wäre ich übrigens wieder da angekommen, wo die eigene Sichtweise durch den Kontakt mit einer anderen bereichert wird. Hier in Ghana nehmen nämlich die sozialen Strukturen und besonders die Familie einen viel, viel höheren Stellenwert ein als in Deutschland. Das gibt Rückhalt und die Sicherheit, dass immer jemand da ist, der einen abfangen wird, wenn es doch mal schlecht laufen sollte. Und das wiederum gibt Optimismus und nimmt die Notwendigkeit des egoistischen Zukunftspessimismus‘…


Dienstag, 17. Juli 2012

Ein anderes Ghana


Seitdem ich in Ghana bin, verbinde ich das Wort „Norden“ nicht mehr mit Fisch, Werder Bremen, Fettes Brot und der See. Vielmehr mit Trockenheit, Armut, Islam und Nichts.
Nordghana ist ein anderes Land. Nicht viel hat es gemein mit dem Reichtum des Südens. Nicht die Geschichte. Nicht die Sprache. Nicht die Vegetation. Nicht den Glauben.

Ghanas Nord-Süd-Unterschied ist historisch und geografisch bedingt.
Im Süden leben wegen der Nähe zur Küste und zum Voltasee viele Fischer und Kakao-, Ölpalmen- und Yamsbauern. An der Küste siedelten sich auch die ersten Europäer an und begannen unter britischer Kolonialherrschaft, den Süden nach britischem Vorbild zu entwickeln und das Christentum zu verbreiten. Der Norden war dagegen schon immer das Gebiet muslimischer Nomaden, die aus dem nahen Sahel kamen. Außer Dürre, einer intensiveren Sonnenstrahlung und den Viehherden und Getreideprodukten der Nomaden hatte der Norden den Kolonialherren nicht viel Attraktives zu bieten. Diese interessierten sich vorwiegend für den rohstoffreichen Süden und beließen den Norden weitgehend so, wie er war.

Nordghana ist ein anderes Land.
Das spürte ich, als ich vom Schiff aus das flache Land mit den sonderbaren Bäumen und den dazwischen grasenden Schafen erkennen konnte, als ich nach dreitägiger Schiffsfahrt auf festem Boden in Yeji angekommen den ersten Muezzin sein Lied singen hörte, als ich festgeklammert an einem Holzbalken über holprige rote Sandstraße rüttelte.

Makango.
Auf dem rückspiegellosen Transporter: Der den fehlenden Spiegel ersetzende Junge. Die Frauen, die so laut über ihr Bild auf dem Cameradisplay und die verdutzten Kinder am Straßenrand lachen. Und wir zwei von der sandroten Schönheit Begeisterten.
Rechts und links: Land, das Savanne heißt. Ihm fehlt die Farbe. Gras, Gestrüpp, das mal Gras war, legt sich ockergelb auf rotbraunem Erdboden schlafen.
Die Ladefläche ist voll mit Säcken, Schüsseln, Gepäck. Und mit Herzlichkeit. Die Frauen geben uns Pito, Hirsebier, das wie Palm Wine schmeckt, und lachen ungeniert bei jedem Schlagloch, das uns das Gebräu in die Nase sprudelt. Ich glaube tatsächlich, neben meiner Oma zu hocken, als ich Kürbiskerne in die Hand gedrückt bekomme und meine Sitznachbarin meine von der unterschätzten Sonnenintensität verbrannte Haut behutsam mit einem um ihre Hüfte geschlungenen Stoff bedeckt.


Salaga.
Gelbe Stadt mit schönem, reinem Namen. Mit bedeutender Geschichte. Knotenpunkt ehemals bedeutender Handelsstraßen. Marktplatz für die Tauschware Mensch.
Die Dörfer, die Häuser sehen hier anders aus. Einfarbig, geordnet. Familien trennen ihre Rundhäuser mit Lehmmauern voneinander ab, bilden Vorhöfe. Wände aus Bastgewebe, Dächer aus Stroh.
Davor sitzen im Schatten Muslime. Lang und dünn, markante Gesichtszüge, die Wangenknochen sind es und die Stirnfalten, manchmal ein charakteristischer Bart um die schmalen Lippen. Augen schauen bedächtig, kritisch, senden gleichzeitig Ruhe aus und, wenn sie angelächelt werden, Wärme. Nordwärme. Auf ovalen Köpfen thronen stolz wie kleine Kronen rundschachtelförmige Kappen, bestickt und bedruckt mit Moscheen unter Sternen und Halbmondsicheln. Türkisblau, weiß, golden. Oder elegant über das Kopftuch gelegte Stoffe. Tüll, seidig glänzend, funkelnd. Betonen Augen, schöne, kraftvolle, bestimmte Augen. Dünne, vergebende, respektvolle Körper stecken in langen, oft einfarbigen Gewändern. Beneidenswert weiß zwischen all den Dreck-, Sand- und Staubquellen.


Tamale.
Rasant wachsende Hoffnung des Nordens. Moscheen und Minarette in Pastelltönen, in reich verzierten Knallfarben. Aus Lautsprechern hallen die Gebete der Muezzine. Nachts wie ein Film. Dunkelheit umhüllt die arabischen Klänge. Ihrem Weg folgende Menschen. Im Gleichklang auf- und niederbebende Kappen. Leuchtfeuer am Straßenrand: Orangen, Kekse, Fleischspieße. Der Halbmond ruht über den Moscheen, schmal und schön. Darüber der Stern, unser Stern.
Angst vor dem Islam? Ich kann sie nun noch weniger verstehen. Die Frauen laufen nicht verschleiert durch die Straßen, sie tragen Kopftücher, die bei der Hitze eine reine Wohltat sind. Die Menschen leben in jener Gelassenheit, die für Mittagspausen in der Sonne die passende ist. Leben und leben lassen.
Stattdessen muss ich mich beim Anblick offensiv schreiender, mit gewaltiger Stimmkraft Anhänger suchender Priester im Süden fragen, für welche Religion eine gewisse Angst gerechtfertigt ist.
Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Ghana. Der Islam auch. Ghana schafft sich trotzdem nicht ab.


Samstag, 7. Juli 2012

Marktplatzgewusel


Gasse um Gasse, darauf knallt Sonnenhitze. Sonnenschirme spielen Schatten in ausgeblichenem Gelb. Daran hängen Röcke, Kopftücher und BHs, Tüten gefüllt mit Milchpulver, Waschpulver, Kakaopulver.
Unförmige rote Pyramiden in Tomatenrot, Palmnussrot, Paprikarot, Melonenrot, Chilirot, Papayarot inmitten Stapeln aus Gelb, Grün, Violett, Rostbraun. Eigroße Gardeneggs, birnengroße Eiermangos, mangogroße Honigmelonen. Frische Blätter und getrocknete Kräuter, Cocoa Yam, Anis, Fenchel. Erdnüsse und Tigernüsse geröstet, gesalzene Kochbananenchips.
Frauen mit Babys auf dem Rücken, die hinter, neben, auf ihren Yamswurzeln schlafen. Krokodilhaut und Stachelschweinstacheln neben abgehackten Schweinefüßen und Ziegenmägen. Augen aus Fischen starren mich an. Frisch, glänzend, fliegenumsurrt, geräuchert, ineinander gerollt, grau und golden braun, so klein wie ein Geldstück, so lang wie ein Kinderarm, platt, fett, gesalzen. Eine Frau schöpft trüben Saft mit charakteristischem Geruch aus einer wagenradgroßen, bäuchernen Kalebasse. Daneben wird einer lachenden Frau eine geflochtene Strähne im Haar befestigt.
Es riecht nach Erdnussbutter, rohem Fleisch und Orangen.




Ziegen stibitzen auf dem Boden trocknende Maiskörner. Wütende Mädchen verjagen sie. Körbe über Körbe. Tüten mit Zucker, Salz und Gari. Schüsseln voll Mehl, Reis und Bohnen. Tausend verschiedene Sorten – Wer kennt den Unterschied? Übereinander geschichtete Dosen und Büchsen. Tomatenmark, Milch, Sardinen.
Ab und an bunte, schön gemusterte Stoffbahnen, bevor das eigentliche Areal der Textilhändlerinnen beginnt. Zusammen gefaltete Stoffe an hölzernen Stangen. Batik,  bestempelt mit den so häufig anzutreffenden Adinkra-Symbolen. Seide, bestickt mit Pailletten, rot-schwarze Beerdigungs-, weiß-gemusterte Festtagsstoffe, Ornamente, Farbverläufe, Applikationen, wie ein Traum, über die Nacht hinaus. Stofffetzen auf dem Boden, ratternde Nähmaschinen, Nadeln, Maßbänder. Mode tatsächlich individuell. 
Es riecht nach Bügeleisendampf.
 

Sonntag, 1. Juli 2012

Say it with a handshake

„Togo!“, „Mali!“, „Sierra Leone!“, lässt der 12-jährige Ernest im Geografie-Wettbewerb die älteren Jungs und Mädels noch älter aussehen, als von außerhalb des Klassenzimmers eine unverkennbare Sirene aufheult: Abigail. Mal wieder. Daneben Mary. Natürlich. Die ihr prompt mit der kleinen Faust auf den Kopf knallt wie ein genervter Student auf den unnötigerweise aufschrillenden Wecker.
Gemütlich trotte ich mit meinem extra für diese beiden Vierjährigen entworfenen „Und was ist heute euer Problem?“-Gesichtsausdruck auf die sich liebenden, hassenden und wieder liebenden Freundinnen zu. Ich hocke mich zu ihnen und höre mir den empörten, luftholpausenlosen und deutlich mit Schuldzuweisungen nuancierten Selee-Ewe-Englisch-Kindersprache-Wortschwall in zwei Stimmlagen an, ohne auch nur drei zusammenhängende Worte zu verstehen. Bis das Wort der Worte so oft fällt, dass auch ich schließlich den Auslöser für den heutigen Streit erkenne: chalk. Achja klar, die beiden sind ja auch mal wieder mit naseweißem Kreidestaub geschminkt. Hände auf, Kreide in der Mitte brechen, ein lachendes Gesicht auf beide Oberarme und auf Marys Wunsch hin auch noch zwei Armbanduhren um die dünnen Handgelenke malen, zwei Patschehändchen zum Handschlag zusammenführen und schon greift Abigail nach Marys Rockzipfel, um mit ihr Richtung Klettergerüst abzudampfen. Say it with a handshake!

The Ghanaian Handshake: Nach dem gesunden Händedruck rutschen beide Mittelfinger gekonnt lässig die Handflächen bis zur gegenseitigen Fingerkuppe hinab, um diese kräftig zwischen Daumen und Mittelfinger zu schnipsen. Gern auch um diverse Handgriffe erweitert. Kitzelt nämlich dabei der Mittelfinger verschmitzt die Handinnenfläche, ist dies ein ganz unkompliziertes Sexangebot, das noch unkomplizierter mit Zurückkitzeln (JA) oder Ignorieren (NEIN) beantwortet werden darf.
Ob mit oder ohne libidinösen Absichten: Der ghanaische Handschlag ist nichts für schwitzige Froschfinger und Freunde betont unherzlichen Weichspüler-Händeschüttelns. Denn Hände werden geschüttelt, gehalten, gestreichelt, geknetet und gepresst, so oft es nur geht. Zur Begrüßung und zum Abschied. Um Danke zu sagen, sich über ein Tor zu freuen oder eine Idee, einen lobenswerten Satz oder einen guten Witz zu bekräftigen. Oder eben: als Versöhnung.

Geschnipst, vergeben und vergessen. Versöhnliche Stimmen klingen in Ghana lauter als nachtragende. Meine Gastmama Comfort erklärt mir das so:
You can make a mistake. All people make mistakes. Mistakes are not good, but they happen and in the end people learn from them. Here in Africa we take everyone as our sister and brother. You can forgive your sister and brother. God forgives us every day, so we should also forgive people every day. If they are apologizing, if they are begging you to forgive them, you should forgive them. Why not? It is not paining you to forgive people.

Vergeben wird in Ghana groß geschrieben. Sogar Kinder werden danach benannt.
Unsere kleine Forgive ist 4 Jahre alt und sitzt gerade auf der Wippe Abigail und Mary gegenüber, die ihren Kreidestreit längst vergessen haben.