Montag, 28. Mai 2012

Gruppenbild mit Dame


Zum Fototermin tritt an: Familie Strickball. Gestrickt, bestickt und geschickt ausgestopft.


Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind schmutziger Zufall. Also beabsichtigt.


In Ghana wird seit einigen Jahren Wasser in hygienisch abgepackten Plastiktüten verkauft – das sogenannte Pure Water, eher bekannt als Pjuoooooooor Wattaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa. Weniger hygienisch abgepackt werden allerdings die Plastiktüten selbst, sondern landen bequem am Straßenrand auf anderen sich dort bereits scharenden Plastiktüten.
Nicht so bei uns: Denn diese Plastiktüten sind getrocknet und kleingeschnitten der perfekte Füllstoff für die neuesten Mitglieder des Kid’s Corners.



Achja… Die Plastiktüten eignen sich auch als Blumentöpfe!


Dienstag, 22. Mai 2012

Kinder, habt Recht!


Liebe Kinder,

ihr seid gut im Malen. Im Abmalen. Ihr seid gut im Reden. Im Nachreden. Ihr seid gut im Laufen. Im Gleichschritt.

Ihr seid gut im Anpassen.
Weil ihr es so kennt.
Weil bestraft wird, wer auffällt. Mit Worten der Erniedrigung. Mit Schlägen. Mit Gottes Hilfe.

Weil ihr funktioniert, wenn ihr keinen Charakter habt.

Dabei habt ihr alle einen Charakter! Unter der aufgesetzten Gleichheit seid ihr alle so verschieden.
David, hinter deiner nervigen Art bist du gutmütig. Abigail, hinter deiner gutmütigen Art bist du nervig. Genivive & Jennifer, ihr seid schon lange nicht mehr nur die Akiti-Zwillinge, ihr seid beide einzigartig. Du bist so schön, Grace, wenn du vollkommen ins Malen vertieft bist. Cephas, danke, dass du weder auf den Kopf, noch auf den Mund gefallen bist.

Ihr alle seid einzigartig und jeder von euch hat ein Recht auf diese Einzigartigkeit. Ihr habt das Recht, zu denken, was ihr denken wollt, zu glauben, woran ihr glauben wollt, zu sagen, was ihr sagen wollt. Ihr habt das Recht, zu sein, wer ihr seid.
Ohne deshalb minderwertig zu sein. Ohne deshalb geschlagen zu werden.
Kinder, ihr habt Rechte!

„Oft sind diejenigen,
deren Menschenrechte am meisten beschnitten sind,
auch diejenigen, die am meisten darüber informiert werden müssen,
 dass eine Menschenrechtserklärung existiert –
und dass diese auch für sie existiert!“
Ban Ki-moon, UN-Generalsekretär

Kinder, ihr habt Rechte!
Ich kann euch nur sagen, dass es Alternativen gibt. Was ihr daraus macht, ist eure Sache.

„Are you praying to Allah? Stop that shit you Muslim bastard!“
Ruth, die Christin, beschimpft und verflucht mich, die Muslimin. Erschrocken und verwirrt starren uns die Kinder von ihren Schulbänken aus an. Mit dieser Showeinlage haben sie nicht gerechnet. Doch sie verstehen sofort, worauf wir mit dem kleinen Theaterstück anspielen wollen – Religionsfreiheit. Und noch mehr: Die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen.


Article 18 - Everyone has the right to freedom of thought, conscience and religion.


Eine Woche lang sprechen wir über Menschenrechte.

Wir alle wünschen uns eine Welt, in der wir frei von Angst und Not leben können, in der wir denken, glauben und sagen können, was wir wollen. Wenn jeder die Würde und den Wert jedes einzelnen Menschen akzeptiert, wenn jeder erkennt, dass alle Menschen die gleichen, grundlegenden Rechte haben, dann führt dies langfristig zu Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt.

So die Erkenntnis der Vereinten Nationen, die aus diesen Gedanken ein Gesetz machten und am 10.Dezember 1948 die Universelle Menschenrechtserklärung unterzeichneten.

Artikel für Artikel ziehen wir an einer Schnur von der Decke, lesen ihn laut vor und hängen ihn anschließend für alle sichtbar an die Wand.

Article 30 - No governments, groups or individuals should destroy any of these rights or freedoms.

Wir zählen auf, für wen diese Menschenrechte gelten:
Für Männer und Frauen.
Für Kinder und Erwachsene.
Für Lehrer und Schüler.
Für Polizisten und Gefangene.
Für Richter und Angeklagte.
Für Menschen jeder Herkunft.
Für Menschen mit Behinderung.
Für Menschen jeder Üerzeugung.
Für Menschen jeden Berufes.
Für Menschen jeder Hautfarbe.
Für Menschen jeder sexuellen Orientierung.
Für Menschen jeder sozialen Gruppe.
Für Menschen jeden Glaubens.
Für jeden Menschen.

Article 1 - All human beings are born free and equal in dignity and rights.

ARTICLE 1:
ALL HUMAN BEINGS ARE BORN FREE AND EQUAL IN DIGNITY AND RIGHTS!

Wir sprechen über Artikel, die im Leben der Kinder eine besondere Rolle spielen, malen und schreiben sie auf.
Article 16 - Men and women have the same rights when they are married. Nobody should force us to marry.




















Am letzten Tag entstehen mit viel Farbe, Kleber und buntem Papier Bilder, die zeigen, was die Menschenrechte für jeden einzelnen bedeuten.
Und damit jeder immer wieder aufs Neue an seine Rechte erinnert wird und sie auch nachlesen kann, gibt es für jeden einen eigenen Menschenrechtspass. Danke an Richard von Amnesty International!

Article 20 - Everyone has the right to freedom of peaceful assembly and association.



Article 26 - Everyone has the right to education.


Montag, 14. Mai 2012

Sandige Augen, salzige Haut


„Dabei war mir nur nicht klar, dass es immer mehr Norden gibt, je südlicher man sich befindet, dass der Norden somit viel vielfältiger wird und dass man manchmal im Norden ist, wenn andere einen noch im Süden wähnen.“
Danke Clara!

Nkwanta – Kpassa

Die Landschaft wird flacher, die Bäume niedriger, das Grün einfarbiger, die Straße schlechter. Wir fahren in Ghanas Norden. Aus Nkwanta führt uns ein Trotro, das seinem Aussehen zufolge wohl noch die englischen Kolonialherren chauffiert hat. Ägäisblau, verbeult, verrostet. Wir sitzen zu viert auf Dreierbänken. Die Straße ist schon lange nicht mehr asphaltiert, unter dem Sand scheinen steinige Klüfte hindurch, große Dellen, selten pfützengefüllt.
„No Road – No Vote!“, erinnern drohende Parolen auf hölzernen Schildern am Straßenrand an die versäumten Versprechen der derzeitigen Regierungspartei, die sich im Dezember zur Wahl behaupten muss. Weiter nördlich werden die Forderungen fordernder: „No Light – No Vote!“ und existenzieller: „No Water – No Vote!“
Im Norden Ghanas zeigen sich die Auswirkungen der britischen Kolonialpolitik bis heute. Durch ihre Abwesenheit. Der Norden war für Europäer uninteressant, bot schließlich der rohstoffreiche Süden ertragreichere Handelsmöglichkeiten. (Kann Ausbeutung als Handel bezeichnet werden?) Gold, Kakao, Kautschuk, Kolanüsse, Elfenbein, gut erreichbar durch die Häfen an Ghanas Südküste. Städte wurden ausgebaut, Verbindungsstraßen festgelegt, christliche Missionsschulen gegründet. In den Norden allerdings verirrten sich kaum Europäer. Kaum Verbesserungen der Infrastruktur. Charmanterweise aber auch kaum westliche Werte…

Kpassa – Damanko

Es geht noch älter.
Unser Gefährt, eine Klapperkiste ohnegleichen, könnte das Highlight einer Oldtimerausstellung sein. Auf zwei sich gegenüber stehenden Holzbänken schauen sechs Gesichter in sechs Gesichter. Ihre Nasen bohren sich bei jedem Geruckel in Arme, Schultern oder Wangen der zwischen den Holzbänken platzierten Passagiere. Mittels dieser Konstruktion können sechzehn Menschen samt Gepäck in viereinhalb Kubikmeter geschachtelt werden. Cool, wollte ich schon immer mal wissen, werde nun wohl Logistik studieren können. Den Gedanken scheinen wohl auch meine Sardinenbüchsengenossen zu haben, die mittlerweile belustigt darüber spekulieren, wie man die kuschelige Wohnzimmeratmosphäre steigern und noch mehr Mitfahrer hineinstapeln könnte. Beine abschneiden, rät meine Quetschnachbarin.
Mit etwas weniger als 50 km/h und etwas mehr als 50 s/m (Schlaglöcher pro Minute) holpern wir voran. Ebenso oft knallt mein Kopf gegen die niedrige Decke. Auch mein üppiges – und selbstverständlicherweise ausschließlich für diesen Zweck angefressenes – Arschfett kann nicht als funktionstüchtiger Stoßdämpfer fungieren. Rums!



Damanko – Bimbila

Es geht noch enger.
Diesmal quetschen sich sechzehn Insassen in einen vom TÜV ausrangierten Opel. Wetten dass? Drei Leute auf dem Sitz neben dem Fahrer, fünf auf der Sitzreihe dahinter, vier auf einer weiteren Sitzreihe im ehemaligen Kofferraum. Und die restlichen drei? Fahren auf dem Dach mit.
Ein paar Mal halten wir an, weil der Fahrer im Feld nach seinen gestern dort vergessenen Schuhen suchen will oder weil das Auto einer Reparatur bedarf. In jedem Fahrer steckt ein Mechaniker!

Bimbila – Yendi

Es geht noch sandiger.
Ich sitze auf einer Holzbank auf einem fünf Meter langen, planenlosen Lastkraftwagen. Schon seit einer Stunde wird in der noch kühlen und menschenfreundlichen Morgenluft aufgeladen und bepackt. Sichtlich schwere, mit Cassavamehl gefüllte Säcke, pralle Taschen, Rucksäcke und Bastkörbe. Lautstarke Diskussionen in der schönen Sprache Dagbani. Über herum fallende Körbe und zu wenig Platz. Wahrscheinlich.
Ein Dutzend Männer klettert auf die metallenen Pfeiler, über die bei anderen Transporten die Planen gespannt werden. Heute gehöre ich zur Ware. Die Fahrt geht los.
Die Fahrt durch den roten Staub. Kommt uns Gegenverkehr entgegen, wird er von einer hinter ihm gezogenen Staubwolke verschluckt. Wie auch wir, wenige Sekunden später. Der Sand knirscht zwischen meinen Zähnen und ich meine, ihn auch bei jedem Augenaufschlag knirschen zu hören. Mal wieder beneide ich die Ghanaerinnen um ihre schönen langen, geschwungenen Wimpern, die den Sand rot auf schwarz abfangen. Ob Wimpernverlängerungs-Mascara zum Schutz der Augen in sandigen Regionen erfunden wurde?
Meine Armhärchen schimmern dunkelorange. Ich male Bilder in den Staub auf meiner Haut. Ein Albatross und ein Stier. Kilometer um Kilometer zieht Savannenland vorbei, ohne aufzuhören oder sich zu verändern. Flach und weit. Quietschend grünes Gras, so grün wie die jungen Birkenblätter Anfang Mai. Im getönten Gras Bäume mit knorrigen, dunkelschwarzen, beinahe verkohlten Stämmen; ulkige, halbhohe Pflanzen mit kinderhandflächengroßen, herzförmigen Blättern; Mangobäume, so perfekt gewachsen, als hätten die Gärtner der Parkanlage von Schloss Sanssouci Hand angelegt.
Vom grünen Gras mittlerweile normal genährte Kühe werden von sechsjährigen Kindern zusammen getrieben. Drei Ziegen stehen auf einem umgelegten Baumstamm – auf der Rückfahrt fünf Stunden später werden sie da noch immer stehen. Ein schöner Vogel, rötlich-braun mit blau-grauen Flügeln, fliegt ein Stück mit uns um die Wette, bis er sich darauf besinnt, mit dem Strohhalm im Schnabel sein Nest weiterzubauen. Eine dreckige, graue Sau samt Ferkelschar, schwarz und ockerfarben und dreckgrau. Schafe heben und senken ihre Köpfe im Takt ihrer Schritte, die braunen Zotteln schlackern um den Kopf, dort, wo die Ohren sein müssen – es sind die Ohren!
Ab und an wechselt die Besatzung unserer Menschen- und Frachtfuhre. Eine dicke Frau hat es sich auf den Säcken im Liegen bequem gemacht. Frauen und Kinder verkaufen Wasser in Tüten, Mangos, Sojaspieße, Perlhuhn, Grillkäse. Käse! Käse in Ghana! Das hat Nordghana dem Süden voraus!


Donnerstag, 3. Mai 2012

Ehrlich gesagt


Ich habe einmal gelernt, dass Ehrlichkeit am längsten währt. Ich habe gehört, dass das Leben kein Ponyhof ist und ich bin davon überzeugt, dass jede Medaille zwei Seiten hat.
Oder anders gesagt: Mein Freiwilligendienst in Ghana hat nicht nur positive Aspekte und es ist fair und ehrlich anderen und mir selbst gegenüber, auch über die negativen Seiten zu reden.
Kritik lohnt sich. Und immerhin haben Zweifel der Welt mehr Glück beschert als Blauäugigkeit.

Es war einmal im Jahre 1492, da entdeckte ein unerschrockener Held namens Christopher Kolumbus den amerikanischen Kontinent und schenkte damit der Weltgeschichte den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit.
So habe ich es gelernt. Aus Geografie- und Geschichtsbüchern, die den europäischen Heilsbringer in den Himmel heben. Was darin kaum Beachtung findet, ist die Tatsache, dass es überall eine Geschichte gab, bevor die Europäer kamen. Menschen lebten auf allen Kontinenten, bevor sie von Europäern zurückgedrängt und getötet, versklavt und ausgebeutet wurden.

Europäer machten die Welt europäisch.
Es waren Europäer - eine Minderheit der Weltbevölkerung-, die Kriege führten, um ihr Sammelsurium aus Landfetzen des Erdballs zu vergrößern. Die Mehrheit der Weltbevölkerung spricht Sprachen, die ihr aufgezwungen wurden, lebt innerhalb Grenzen, die ihr aufgezwungen wurden, glaubt an einen Gott, der ihr aufgezwungen wurde.

Europäer machen die Welt europäisch. Noch immer. Wie zur Kolonialzeit.
Was vor 100 Jahren besetzte Landstriche waren, sind heute besetzte Ölraffinerien und Billiglohnfabriken. Was vor 100 Jahren das Christentum war, ist heute die Demokratie.
Die Demokratie, Stolz und höchstes Gut des modernen Europas, gilt als Norm, um andere Länder nach dem Grad ihrer Entwicklung zu beurteilen. Höher entwickelt sind jene Staaten, die dem europäischen Standard am ehesten gleichen. Weniger entwickelt dagegen jene, die diesen Standard noch erreichen müssen.
Der Welt wurde gelehrt, europäisch zu blicken, nach europäischen Maßstäben zu urteilen. Dabei übersehen wir, dass die Welt noch andere Perspektiven als die europäische bereithält. Dass unser Denken nicht das Maß aller Dinge ist. Dass es Werte gibt, die ebenso zu existieren berechtigt sind wie die europäischen.

Europäer machen die Welt europäisch. Noch immer. Mittels Entwicklungspolitik.
Europa und die westliche Welt können ihre finanziellen Unterstützungen unter bestimmte Bedingungen stellen und somit die Entwicklung des Restes der Welt kontrollieren und regulieren. Unter dem Deckmantel der Hilfeleistung sichert sich die westliche Welt auf diese Weise die Position des Mächtigeren, der die in diesem Sinne Hilfsbedürftigen von sich abhängig macht. So bleibt das Prinzip der Kolonialzeit erhalten: Eine Zweiteilung der Welt in Entwickelten und Unterentwickelten. In Geber und Nehmer. In Mächtigen und Abhängigen.

Seit acht Monaten mache ich einen entwicklungspolitischen Freiwilligendienst, der vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unterstützt wird. Ich bin ein kleiner Teil der deutschen Entwicklungspolitik und trage in diesem Sinne dazu bei, Ghana in ein Abhängigkeitsverhältnis gegenüber Deutschland zu drücken. Zwar sehe ich deutlich, was meine Arbeit im Kid’s Corner den Kindern von Santrokofi bringt, zwar erkenne ich schon Verbesserungen ihres Bildungsstandes, aber ich weiß auch, dass ich sie in vier Monaten wieder verlassen muss. Wenn nach mir wieder Freiwillige kommen, müssen auch sie von Null beginnen, müssen sich die Kinder wieder auf neue Menschen einstellen, die nach einigen Monaten wieder gehen. Nachhaltigkeit sieht anders aus.
Das, was ich mit meinen Kindern mache, ist Nothilfe. Hilfe für den Moment. Weitsichtiger wäre es, die Ausbildung ghanaischer Lehrer und Erzieher zu unterstützen, die hier leben und langfristig die Bildungssituation ghanaischer Kinder verbessern können.
Damit sich Ghana selbst entwickeln kann und nicht entwickelt, fremdentwickelt, wird.

Entwicklungspolitik hat viele gute Seiten und ist meiner Meinung nach notwendig. Dennoch lohnt es sich, die Nachteile nicht zu ignorieren.
Kritik ist immer unangenehm. Aber ehrlich.