Freitag, 4. November 2011

Zwischen Leben und Sterben


Volksfeststimmung am Wochenende. Für drei Tage verdoppelt sich die Einwohnerzahl Santrokofis. Gäste reisen an. Aus der Hauptstadt Accra, aus dem weit entfernten Kumasi, sogar aus den USA kommen sie geflogen.
Laute Bässe dröhnen aus lauten Lautsprechern. Legen die Bässe eine Pause ein, sind laute Jubelschreie und beinahe teeniehaftes Gekreische zu hören. Sechsjährige Kinder lassen zum Takt der Töne ihre Hüften kreisen, während sich neben ihnen ihre jugendlichen Geschwister von all der Schulbescheidenheit in ausgelassenen Bewegungen lostanzen und losspringen. Auf der einzigen Straße des Dorfes tummeln sich herausgeputzte Menschen, ganze Menschentrauben lachen und schwanken mit einer Flasche oder einem Glas oder beidem in der Hand vor den Drinking Spots.
Volksfeststimmung am Wochenende.

Das Volksfest ist eine Beerdigungsfeier.
Funerals – Beerdigungen – sind große Ereignisse, die ausgiebiger gefeiert werden als Taufen und Hochzeiten. In wohlhabenderen Familien ist es nicht unüblich, einen toten Körper ganze Monate unbeerdigt aufzubewahren, bis das große Begräbnis geplant ist und tatsächlich alle Angehörigen des Verstorbenen zu diesem Großevent anreisen können.

Am Wochenende wurden in Santrokofi drei Männer gleichzeitig beerdigt, die in diesem Dorf aufgewachsen waren.
Nachdem am Freitag mehr als 50 Frauen das Essen für die vielen Gäste vorbereiteten, konnte am Samstag die Beerdigung – bestehend aus einer aufwändig organisierten Predigt mit viel Musik und langen Gebeten und der anschließenden Grablegung – stattfinden.

Wenige Stunden zuvor hatte jeder die Gelegenheit, sich ein letztes Mal von den Verstorbenen zu verabschieden. In zwei Räumen lagen die toten Männer aufgebahrt in offenen Särgen. Gekleidet in feine Anzüge. Umspielt von Ketten und bunten Steinen. Viele Bilder zeigten das Leben der nun toten Menschen. Der Raum war farbenfroh geschmückt mit blinkenden Lichterketten und Kränzen aus grellen Plastikbändern.
Ich schäme mich dafür, dass mein erster Eindruck dieser Totendarstellung ein lächerlicher war. Als würde es dem Tod nicht gerecht werden. Als würde man den Tod nicht ernst nehmen.

Das scheint der Knackpunkt zu sein – die Ernsthaftigkeit des Todes.
Ich nehme den Tod sehr ernst, weil er dort, wo ich herkomme, eine Katastrophe ist. Weil er dort abstrahiert wird, inszeniert als Worst Case, der hinaus gezögert werden muss, verhindert, wenn möglich.
In Ghana – zumindest in Santrokofi – ist Tod kein abstraktes Wort. Tod ist etwas Natürliches. So natürlich wie die Geburt, wie das Laufenlernen und das Wachsen. Der Tod ist so natürlich, weil er gegenwärtig ist.
Dem Tod kann nicht derart vorgebeugt werden, wie es in Deutschland möglich ist: Über Ghanas mit Schlaglöchern übersäte Straßen holpern Autos, die in Deutschland keine TÜV-Plaketten mehr bekommen konnten.
Der Tod kann nicht derart verschoben werden, wie es in Deutschland möglich ist: Aus deutschen Augen ist die Krankenversorgung ein Desaster. Manchmal ist tagelang kein Arzt aufzutreiben, für viele Familien sind Medikamente zu teuer, die weniger als einen Euro kosten.

Weil der Tod für viele so natürlich ist, glaube ich, dass er für viele ernster ist als für Menschen wie mich, die ihn zwar irgendwie im Bewusstsein abgespeichert haben, jedoch erschrecken, wenn er real wird, die ahnungslos sind, wie sie damit umgehen sollen und ihn deshalb weit von sich weisen. Diese – eher deutsche – Ernsthaftigkeit des Todes ist nur eine aufgesetzte Ernsthaftigkeit, da sie den Tod nicht ernsthaft als Lebensgrenze akzeptiert. Viel eher meint sie eine Tabuisierung des Todes. Lasset uns nicht davon sprechen, dann wird es auch nicht geschehen…

Vielleicht ist es gut, dass der Tod in Deutschland eine so abstrakte Rolle einnimmt, weil es bedeutet, dass er nicht an der Tagesordnung steht und Menschen überleben, weil es Gründe gibt, wegen derer man im 21. Jahrhundert – in Deutschland! – nicht mehr stirbt.
Vielleicht ist es nicht gut, dass der Tod in Deutschland eine so abstrakte Rolle einnimmt, weil er dadurch beeinflussbar erscheint und uns vorgaukelt, wir hätten die Macht, ihn zu manipulieren. Und werden dadurch blind. Und stolpern über die Grenzen unserer Fähigkeiten.

An dem Morgen der großen Beerdigungsfeier starb eine Frau, die schon seit Wochen krank gewesen war, sich jedoch das Krankenhaus nicht leisten konnte. Ihr toter Körper wurde direkt am nächsten Morgen begraben, da die Familie kein Geld für eine aufwändige Beerdigungsfeier aufbringen konnte. Die Predigt war viel kürzer als die lang geplante Programmabfolge vom Vortag. Und womöglich deshalb so bewegend.
Die Schwestern tanzten um den Sarg. Ausgebreitete Arme, Tücher in den Händen. Aus geschlossenen Augen liefen Tränen. Inbrünstige Melodien aus kraftvollen Kehlen. Hier und da ein in Erinnerungen vergrabenes Lächeln. Der Schmerz über den Verlust, heraus getanzt in unzähligen rhythmischen Schritten. Bis nichts bleibt als die Erinnerung an das Schöne und die Dankbarkeit für das Leben.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Möchtest du etwas flüstern?